Israel/Palästina – Erklärung der Menschenrechtsorganisation medico international: Gegen die Logik der Gewalt + Spendenaufruf

Aus aktuellem Anlass veröffentlichen wir einen Aufruf von medico international vom 10. Dezember 2023 zum Gaza-Krieg. Die Allmende arbeitet schon seit vielen Jahren mit dieser 1968 gegründeten Menschenrechtsorganisation zusammen. Am 27.2.2016 war der damalige Medico-Vorsitzende Thomas Gebauer im Museumskeller zu Gast.
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Der „Krieg gegen die Hamas“ ist längst zu einem Krieg gegen die palästinensische Bevölkerung geworden. Wo soll das alles enden?

In zwei Monaten Krieg ist Gaza unter den Augen der Weltöffentlichkeit und mit politischer Unterstützung der Bundesregierung zu einem Massengrab geworden. Die Enklave, eine der am dichtesten besiedelten Regionen der Welt, ist schon jetzt in weiten Teilen ein bis auf weiteres unbewohnbares Trümmerfeld. Während mittlerweile über 17.000 Palästinenser:innen getötet und unzählige verletzt worden sind, wurde auch die Lebensgrundlage von zwei Millionen Menschen zerstört.

Zerstört wurden nicht in erster Linie die Hamas-Tunnel, sondern die gesamte Infrastruktur von Krankenhäusern bis Universitäten und mit der Zerstörung von Archiven, Bibliotheken, Moscheen und Kirchen das kulturelle Gedächtnis der Bewohner:innen von Gaza. Seit zwei Monaten fast ununterbrochener Bombenangriffe durchleben die Menschen Todesangst und Hoffnungslosigkeit. Es gibt kaum Worte, die das menschliche Leid, das die etwa zwei Millionen Bewohner:innen Gazas ertragen müssen, beschreiben können.

Der „Krieg gegen die Hamas“, wie es vielfach beschönigend heißt, ist längst zu einem Krieg gegen die palästinensische Bevölkerung geworden. Nach einem kurzen Hoffnungsfenster endete am 30. November die von Israel und Hamas vereinbarte Feuerpause. Noch am selben Tag erreichte Hunderttausende Menschen im südlichen Gazastreifen eine erneute Order der israelischen Armee zur Zwangsevakuierung. Ganze Kolonnen verzweifelter Menschen setzten sich in Richtung der bereits überfüllten Gebiete nahe der ägyptischen Grenze in Bewegung. Schon vor dem neuerlichen israelischen Befehl galten 80 Prozent der Bevölkerung Gazas als Binnenvertriebene.

Soweit wir wissen, mussten auch die 600 Menschen, die bei unserer Partnerorganisation, der Fraueninitiative Culture and Free Thought Association, in Khan Younis im Süden des Gazastreifens untergebracht waren, ihre Notunterkunft verlassen. Von ihnen und unseren Partner:innen der palästinensischen Gesundheitsorganisation Palestinian Medical Relief Society haben wir seit Tagen nichts gehört. Wir sind in großer Sorge um das Leben der Menschen in Gaza, auch um das unserer Kolleginnen und Kollegen, die wir seit Jahren kennen und die Freund:innen geworden sind.

Die Ausweitung des Kampfeinsatzes in Richtung Süden hat jede Hoffnung auf Schutzräume für die Zivilbevölkerung im Gazastreifen zunichte gemacht. Zunichte gemacht ist auch die Hoffnung, die in der Freilassung israelischer Geiseln durch die Hamas und palästinensischer Frauen und Kinder aus israelischer Haft lag. Bei aller Inszenierung lag in diesen Bildern eine Möglichkeit jenseits der dichotomischen Logik von „die oder wir“.

In den Tagen der Feuerpause wurde die Aufarbeitung der Kriegsverbrechen begonnen. Es wäre eine Möglichkeit, ohne Fortsetzung des Krieges Recht zu schaffen. Die israelische medico-Partnerorganisation Physicians for Human Rights hat einen Bericht über den Einsatz sexueller Gewalt als Kriegswaffe durch Beteiligte des Hamas-Überfalls vorgelegt. In einer investigativen Recherche zeigte der israelische Journalist Yuval Abraham für das Magazin +972, dass die israelische Armee im Vergleich zu früheren Kriegen die Zahl angeblich legitimer Ziele – unter Einsatz künstlicher Intelligenz bei deren Identifikation – drastisch erhöht habe und dabei wissentlich die hohe Zahl ziviler Opfer in Kauf nehme. Die langjährige israelische medico-Partnerorganisation Breaking the Silence hat außerdem auf die erneute Anwendung der sogenannten Dahiya-Doktrin aufmerksam gemacht. Ihr folgend setze das Militär gezielt unverhältnismäßige Feuerkraft ein, um durch die Zerstörung ziviler Ziele den Gegner unter Druck zu setzen. Für all diese wichtigen Einsichten und die sich anschließende Frage, welche politischen Konsequenzen daraus zu ziehen wären, ist heute kein Platz. Stattdessen erleben wir eine weitere Eskalation des Krieges in Gaza – aber auch der Gewalt in der Westbank.

Dort erlebt die Bevölkerung eine seit Jahrzehnten nicht dagewesene Gewalt von israelischen Siedler:innen und Militär. Im Windschatten der deutschen und US-amerikanischen Unterstützung für das brutale Vorgehen in Gaza hat Israel in der Westbank Hunderte von Palästinensern getötet, Tausende festgenommen und ganze Dorfgemeinden vertrieben. Obwohl hier nicht die Hamas regiert, erfolgt diese systematische Eskalation. Es geht also nicht nur um die Zukunft von Gaza, sondern um die Zukunft der Palästinenser:innen insgesamt, um ihre Würde, um ihre Menschenrechte und ihr Recht auf Selbstbestimmung.

Die Politik der Bundesregierung

Mit Blick auf den Angriff der Hamas und die israelische Reaktion hierauf sprach der Philosoph Omri Boehm kürzlich von einer Logik der Entmenschlichung. Sie „kennt bloß ein Ziel: Es wird nur ein Volk bleiben. Die einen oder die anderen. Diese Logik ist Teil der Logik eines totalen Krieges.“ In der Asymmetrie des israelisch-palästinensischen Konflikts besitzt Israel die Möglichkeit, diese Logik weiter zu treiben und auszureizen. Auch deswegen muss sie durchbrochen werden. Dazu beizutragen, ist eine mittlerweile historische Aufgabe der wichtigsten Verbündeten Israels. Dazu zählt auch Deutschland, das sich aufgrund seiner Geschichte nahezu bedingungslos der israelischen Sicherheit verpflichtet fühlt.

Dass die Bundesregierung sich gegen einen Waffenstillstand positioniert und stattdessen eine rechte bis rechtsradikale israelische Regierung in ihrer völkerrechtswidrigen Politik der schonungslosen Kollektivbestrafung der palästinensischen Bevölkerung im Gazastreifen unterstützt, birgt jedoch keinerlei friedliche Perspektive – auch nicht für Israelis. „Man wird uns hassen, und zwar zu Recht“, schrieb dieser Tage Gideon Levy, Redakteur der israelischen Haaretz. Nicht nur die Sicherheit der Palästinenser:innen, sondern auch die der Israelis wird durch die deutsche Politik untergraben. Eine Politik, die vor allen Dingen von dem einen Wunsch geleitet zu sein scheint, sich durch die bedingungslose Unterstützung einer umstrittenen israelischen Regierung von der eigenen Geschichte zu befreien.

Die Bundesregierung proklamiert eine werteorientierte Außenpolitik. Sie besteht in der Achtung des Völkerrechts und in einer aktiven Friedenspolitik. Mit der bedingungslosen Unterstützung der israelischen Kriegspolitik unterminiert die Bundesregierung ihre eigenen Prinzipien auf fundamentale Weise. Das werden ihr viele Länder und Regierungen so schnell nicht nachsehen.

Wo soll das alles enden?

Für das gesamte palästinensische Gebiet, ganz akut für den Gazastreifen, aber auch für die Region insgesamt stellt sich die Frage: Wo soll dieser Krieg hinführen, wenn niemand der israelischen Regierung Einhalt gebietet? Die massive Zerstörung und die humanitäre Katastrophe bergen das reale Risiko der Entvölkerung Gazas – und zwar ganz ohne dass die israelische Armee weitere Befehle zur Zwangsumsiedlung aussprechen muss.

Wenn palästinensisches Leben in Gaza möglich bleiben soll, wenn eine Massenflucht bzw. -vertreibung nach Ägypten verhindert werden soll, wenn die palästinensische Bevölkerung nicht durch Bomben, Hunger, Durst und Krankheiten weiter dezimiert werden soll, dann muss der Krieg – und mit ihm die Logik der Gewalt – umgehend aufhören. Dann brauchen die in Gaza Eingeschlossenen Hoffnung und Verbündete. Dazu zählen potentiell auch Verbündete Israels, die das Land so auch davor bewahren können, weitere Verbrechen zu begehen, die es schon jetzt in tiefe Isolation treiben.

Hoffnung brauchen aber auch die Überlebenden der Angriffe vom 7. Oktober in Israel, die Familien und Freund:innen der Ermordeten, und nicht zuletzt die noch immer in Gaza festgehaltenen Geiseln. Die Demonstrationen ihrer Angehörigen, die Versammlungen von Israelis und Palästinenser:innen für Frieden spielen in der öffentlichen Wahrnehmung hierzulande kaum eine Rolle. Doch ihnen, den israelischen wie den palästinensischen Opfern von Krieg, Gewalt und Terror und den Menschen, die an ihrer Seite für Frieden stehen, sollte unsere Solidarität gelten. Sie müssen der Bezugspunkt unserer Perspektiven auf Israel und Palästina sein, nicht die Regierenden und ihr Interesse an der Aufrechterhaltung von Feindbildern und Kriegszuständen.

medico international am 10. Dezember 2023